Mittwoch, 20. Dezember 2017

Sizilische Geschichten (7). Caltabellotta. Näher kann man auf Erden dem Himmel nicht kommen.


Caltabellotta. Manche Orte begleiten einen ein Leben lang, obwohl man sie niemals sah. Und niemals dort war. Irgendwie kreuzen manche Orte immer wieder im eigenen Leben unverhofft auf. Ein Name, der irgendwie bleibt. Eine Verbindung, die irgendwann einmal in einem früheren Leben war.

Von Caltabellotta hörte ich zum ersten Mal als ich 21 war. Ich weiß es deshalb so genau, weil dies die Jahre waren, in denen plötzlich mit Wucht die Freiheit in mein Leben trat. Die Schule war Zwangst gewesen und Enge für mich. Daran anschließende vier Monate Bundeswehr waren eine interessante Erfahrung, wie sich eine Diktatur anfühlen könnte, in der ein Individuum nichts, aber auch gar nichts mehr zählt.

Doch das Leben meinte es gut mit mir. Von einem Tag auf den anderen war ich plötzlich "draußen" vom Bund, ein glücklicher Zufall. Und "drinnen" in der universitären Welt von München. Plötzlich war, was vorher Enge war, Weite und Freiheit. Vorlesungen hören dürfen, die ich hören wollte. Hemmungslos meinen Neigungen nachgehen und zuhören dürfen, wie das war, mit der Eroberung Süditaliens durch die Normannen. Oder dem Parzifal. Die Spitze dieser Leidenschaften war ein historisches Seminar, das den Titel trug "Die Urkunden Siziliens bis zum Vertrag von Caltabellotta". Ich war 21. Das Seminar ging drei Stunden. Es begann Freitag Morgens um acht. Etwas für Geniesser. Neben mir interessierten sich nur noch zwei andere Studenten für dieses brennende Thema. Der eine, der es ebenfalls Freitag Morgens im Winter in das Seminar schaffte, hieß Giovanni di Lorenzo. Das sagte mir damals nichts. Doch im Gegensatz zu mir, der ich nur über Neugier und einen revoluzzerhaften roten Bart verfügte, hatte Giovanni di Lorenzo etwas, das mir vollkommen neu war: Er war einfach smart. Schon damals. Und irgendwie in diesem überheizten staubigen Raum morgens um acht war er wie ein Wesen, das nicht zu den Zausebärten gehörte, sondern aus einem anderen Universum stammte. Was ihn an den sizilischen Urkunden gelockt hatte, weiß ich nicht. Aber es war ganz sicher nicht sein Wissen um den Vertrag von Caltabellotta, was ihn später zum Chefredakteur der ZEIT werden ließ.

Später lernte ich dann, als ich vor lauter Freiheit und Neugier, nicht mehr wusste, was ich noch anstellen sollte und deshalb Arabisch lernte, dass der Name Caltabellotta aus dem Arabischen kommt. "Qualat-al-Balut" - der Berg oder auch die Festung aus Eichen. Ich habe das nie vergessen, es ist ein gar zu schönes Bild. Doch nach Caltabellotta selber kam ich nie. 

Man kann sie sich gut vorstellen, auf dem obersten Foto, die Eichenfestung. Eine erste Burg aus aneinandergereihten Eichenstämmen oben um den Felsen, wo heute die Häuser enden. Aber so oft mir auch die Eichenfestung im Hirn summte - nie kam ich hin. Bis mich sizilianische Bekannte und allen voran Franco, der gewichtige "Presidente" des Circolo Nautico von Sciacca, vor einigen Tagen ermahnten, dass Caltabellotta faszinierend sei. Und schön. Also machte ich mich auf den Weg. 

Ich habe keine Sekunde bereut. Der Ort liegt keine halbe Stunde von Sciacca entfernt, hineingeklebt in die Bergkette, die man als Segler von unten vom Meer aus sieht. Eine halbe Stunde nur in die Berge hinauf. Und auf


dieser Fahrt begegnet einem tatsächlich nur wenig anderes, als hin und wieder ein alter Fiat 500 mit einem noch älteren, kleinwüchsigen Sizilianer darin. "Die sind alle klein da oben", sagte Franco, der über einsneunzig groß ist und fast so breit, "die sind astreine Sikeler". Damit meinte Franco den einen der drei Stämme, die Sizilien besiedelt hatten, bevor die Griechen kamen und die Urbevölkerung in die Berge drängten. Triocala nannten sie den Ort. Und wer hierher kam, der erwählte sich diesen Ort nur selten freiwillig. Trocala/Caltabellotta liegt vom Meer weg auf fast 1.000 Meter Höhe. Ein eiskalter Wind pfiff, die mich die Hände tief in der Jacke vergraben ließ, wo ich

doch eben noch am Meer in warmen 17 Grad in der Sonne saß. Der Ort ist unwirtlich. Und doch kenne ich kaum einen irdischen Ort, an dem mich so sehr das Gefühl beschlich,  dem Himmel so nah gekommen zu sein, wie das auf Erden eben nur irgend möglich ist.

Der Ort ist menschenleer, es ist Nachmittags, die Stunde, in der sich alle Italiener ausnahmslos verabreden, sich bei Strafe die nächsten zwei Stunden keinesfalls, keinesfalls auf der Straße blicken zu lassen. Ich fahre durch die leeren Gassen, es wird enger, es wird steiler. Und wer jemals meinte, er könne Autofahren, darf kann das nirgendwo so gut wie in Caltabellota unter Beweis stellen. Straßen, die so schräg sind, dass ich Sorge habe, mein kleiner UP könnte kippen. Steile Gassen so eng, dass ich beim Durchfahren schon die beiden Außenspiegel splittern höre. Während mich die Furcht beschleicht, wie ich wohl jemals wieder hinunterkommen werde, folge ich der Straße weiter und weiter nach oben.

Und dann steht sie da, die Kathedrale des Ortes, auf dem zweithöchsten Punkt, wo sonst nichts mehr steht und nur noch ein Felsen ragt. Die Kathedrale, wie sie sich nennt, könnte dem Film DER NAME DER ROSE entsprungen sein. Karges hellgraues Gemäuer. Einziger Schmuck an der Front ist ein schmuckloses romanisches Portal, ganz Proportion, nicht Dekoration. Ein Bogen, der dem, der über die Schwelle tritt und hindurchschreitet, den Eingang in eine andere, bessere Welt verkündet. Ob sie das wirklich war, die die Gläubigen im 11. Jahrhundert dort drinnen fanden? An diesem Nachmittag stehen drei Gemeindemitglieder um den Altar herum. Sie bauen gerade die Krippe auf, besprechen die letzten Details und beachten mich nicht weiter, während ich mich in die Kirchenbank setze und für einen Moment die Stille genieße. Wie und warum schafft man es, auf 1.000 Meter Höhe und fernab der Welt ein Leben zu meistern an diesem Ort, der mehr Flucht als Behagen verspricht? Und: Wie und warum schafft man es, an diesem Ort im 11. Jahrhundert eine Kathedrale zu errichten? Sie - und vielleicht nicht die Burg - war vielleicht der Ort, in dem der Vertrag von Caltabellotta zustande kam? Was immer auch sein Inhalt war.

Der Blick aus der Kirche. Von der Kirche: Ist wie der Blick aus einem Krähennest. Wohin ich auch schaue: Es ist diese merkwürdige Art von Weite, die die Landschaft Siziliens ausmacht. Es gibt die hohen Berge, die von 0 auf 1.000 Meter ansteigen. Doch sie sind nicht umgeben von anderen hohen Bergen, so dass der Blick sich gleich wieder am nächsten Gipfel verfängt und nicht weiterkommt. Überall ist in Sizilien hügelige Weite, an deren Ende irgendwo in der Ferne immer das Meer verheißungsvoll glitzert. Wo man auch steht: Überall ist diese Weite.



Caltabellotta. Wenn ich gewusst hätte, was mich hier erwartet, dann hätte ich mir nicht 35 Jahre Zeit gelassen, hierherzukommen. Ob ich hier leben könnte? Ich weiß es nicht. Zu eng. Zu steil. Und selbst der kleine Supermarkt, dessen Händler mir freundlich grinsend, doch begeistert über mein holpriges Italienisch ein Panino al Prosciutto crudo schneidet, selbst dieser Supermarkt ist ein Bild dieses  Ortes: Waren und Würste liegen weniger neben- als übereinander in der Theke aus. Das muss man aushalten. Doch vielleicht ist das der Preis, immer, immer diese Weite und diesen Blick um sich zu haben. Wohin man auch gehen oder schauen mag.



Das nächste Mal: Werde ich darauf eher hören. Wenn mich der Name eines Ortes ein Leben lang begleitet.


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