Sonntag, 8. Oktober 2017

Sizilische Geschichten. Am Strand von Sciacca.


Wieder einmal bin ich froh, ein Boot zu besitzen. Hätte ich kein Boot, dann wäre ich nicht aufgebrochen. Ich wäre jetzt nicht in Sizilien. Nicht in Sciacca. Nicht am Strand.

Hätte ich kein Boot, wäre mein Leben einfacher. Aber vermutlich auch langweiliger. Ich würde nicht - wie in den letzten Tagen daheim - aufwachen mit dem Gedanken: "Was wohl mein Boot macht? Ob noch alles heil ist?", weil ich es im Hafen von Sciacca an der Transitpier zurückgelassen hatte, ein Ort der vagen Sicherheit, an dem leicht etwas zu Bruch gehen kann. Ich würde nicht hier auf Levje Listen anfertigen jetzt im Herbst, während mein Blick hierhin fällt und dahin, was über den Winter auf dem Boot alles zu reparieren ist. Aber wie gesagt: Ich wäre auch nicht vor ein paar Tagen aufgebrochen, hierher ans Meer. Ich hätte keinen Grund gehabt.

Über den Winter werde ich mein Boot in Sciacca lassen. Ich freue mich darauf. Auch das verdanke ich meinem Boot: Einen Ort näher kennenzulernen, im Winter. Öfter hier zu sein, in diesen Ort einzutauchen, ihn im Winter zu erleben. Sciacca, gesprochen "Scha:kka", ist ein typisch sizilisches 50.000-Einwohner-Städtchen. Mit einer einstmals mittelalterlichen Altstadt, die sich den Hügel hinaufzieht, und überwiegend vom Fischfang und der Landwirtschaft lebt. 

Der Herbst, der Winter, das habe ich auf diesem Blog schon öfter geschrieben, sind die beste Reisezeit. Der Rummel ist vorbei, auf dem Meer und an den Küsten ist man fast allein, der Strand gehört den wenigen, denen, für die es jetzt gerade keinen schöneren Ort gibt. 

Ich gebe zu, dass ich diesen Sommer fast nur am Meer, aber kaum drin war. In Italien nicht. Und während meiner drei Monate Kroatien auch nicht. Das ist nicht ungewöhnlich. Meine Segellehrer allesamt habe ich nie ertappt, dass sie ins Wasser gehen. Es scheint, dass Menschen, die passioniert auf dem Meer unterwegs sind, das Verlangen verlieren darin zu schwimmen. Mir war das Wasser im Sommer einfach zu warm.

Aber gestern, am Strand, musste ich unbedingt schwimmen. Es hatte Wellen. Es war frisch und prickelnd, als würde man von der Sonne, die noch mit Kraft auf der Haut brennt, ins eiskalte Gesprudel eines Mineralwasser-Glases steigen.

Am Strand war nicht viel los. Zwei italienische Teenager-Pärchen. Ein Herr in Badehose und weißem Bademantel, der durchs Wasser stapfte und gestikulierend sein Handy in der Hand hielt und telefonierte. Ich stellte mir, was der Anlass für lange Telefonate sein könnte. Was könnte einen Mann im Gegensatz zu einer Frau verleiten, stundenlang an diesem Ort im Wasser stehen und gestenreich zu telefonieren. Eine Scheidung? Die Aufarbeitung zweier Jahrzehnte einer Beziehung? Der Ort könnte passen. Jetzt nur kühlen Kopf bewahren. 
Oder: Das samstägliche Telefonat mit seinem Vertriebsteam, das gestern von der Verkaufstour zurückgekehrt ist und am Samstag Nachmittag am Schreibtisch sitzt und Papierkram wie Verkaufsreports erstellt? Das könnte passen, die Gesten des Mannes waren klar, bestechend, während er im Bademantel durch die Wellen schritt. 


Oder ist er jemand, der die Frauen liebt fünf Partnerinnen gleichzeitig hat, die alle nichts von einander wissen? So etwas erfordert neben echten Management-Fähigkeiten auch akrobatische Künste. Fünf Bälle gleichzeitig schwebend in der Luft zu halten. Der sinnliche Ort, den sich der Mann für sein Telefonat an diesem Strand ausgesucht hat, er könnte dazu passen. Doch weil ich denke, dass die Ergebnisse meiner etwaigen Recherche mich nur enttäuschen würden, lasse ich den Herrn im weißen Bademantel weiter telefonieren, während er auf die Felsen im Wasser steigt, und unterbreche ihn lieber nicht.

Eine ältere Dame kommt im Bikini an den Strand, zum Schwimmen. Sie sieht aus, als gehörte das Bad im prickelnden Mineralwasser jeden Tag zu ihrem Leben. Sommer wie Winter. Ich habe eine Schwäche für einen Menschen, der genau wissen, wie sein Tag auszusehen hat, damit es ihm gut geht. Die Dame strahlt jene Autarkie aus, die es für so ein Leben braucht. Sie war, als bräuchte sie nicht wirklich jemanden.

Während ich ihr noch nachsehe, kommen drei Menschen mit nördlichen Gesichtern an den Strand. Urlauber offensichtlich, ein Mann und seine Frau, mit Freundin, vielleicht aus einer der zahllosen Ferienwohnung der Umgebung? Sie tragen Badekleidung, ihr Lauf beschleunigt sich beim Näherkommen, sie rennen voll Freude ins Meer, ich höre Schwizerdütsch und sehe pure Freude. 

Ich wüsste zu gern. Zu gern wüsste ich, was es ist, was in uns diese unbändige Freude auslöst beim Anblick des Meeres. Beim Anblick der Wellen. Beim Anblick des großen Blau gerade um mich



herum. Woher es kommt, dass wir uns einfach nur freuen. Welcher Reflex ist das? Haben wir in der Kindheit zuviel Werbung gesehen, in denen das Meer vorkam? Sind es nur wir Nordlichter? Aber dann wäre das Meer allen Italienern, die von ihm gleich auf drei Seiten umgeben sind, gleichgültig. Doch auch sie strömen - ans Meer.



Und während die Sonne viel zu schnell hinter den Hügeln versinkt und ich zurück zu Levje aufbreche; während der abendliche Himmel über meinem Boot zur riesigen Leinwand wird, angesichts derer mir noch der spannendste Kinofilm lumpig erscheint, denke ich zweierlei. Die Kunst für ein gutes Leben ist es doch, genau zu wissen wo man glücklich ist. Und es irgendwie zu schaffen, jeden Tag etwas zu tun, was unseren Alltag abstreift - wie eine lästige Gummihaut, in die uns jemand gesteckt hat. Dumm nur, dass dieser "jemand" wir selber sind.

Ich glaub: Ich geh morgen wieder an den Strand.



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